Übersehen eines massiven Hirnstamminfarkts mangels Hinzuziehung eines Neurologen als grober Behandlungsfehler

Das Oberlandesgericht Hamm hat mit Urteil vom 12.08.2013 – 3 U 122/12 – in der fehlenden Hinzuziehung eines Neurologen zur Beurteilung einer Computertomographie einen fiktiven groben Behandlungsfehler gesehen.

 

Die seinerzeitige Patientin wurde am 12.11.2005 von ihrem Sohn in ihrer Wohnung gefunden. Sie wies eine linksseitige Halbseitenlähmung auf. Der Sohn alarmierte den Notdienst, der bald darauf in der Wohnung der Patientin erschien und sie in ein Essener Krankenhaus verbrachte. Kurz vor Eintreffen der Patientin im Krankenhaus verlor diese das Bewusstsein und erlitt nach Eintreffen in der Klinik im Schockraum einen Krampfanfall mit Aspiration. Daraufhin wurde seitens der Ärzte der Klinik eine Intubation und Bronchoskopie durchgeführt und zeitnah ein craniales natives Computertomogramm ohne Kontrastmittelgabe durchgeführt. Ein weiteres CT wurde erneut am 13.11.2005 durchgeführt. Am 14., 15., 16. und 17.11.2005 fanden jeweils neurologische Konsile statt, bei denen sich das Bild eines Locked-In-Syndroms bei abgelaufener Basilaristrombose ergab. Am 18.11.2005 wurde die Patientin in ein anderes Krankenhaus in die dortige Klinik für Neurologie verlegt, wo ein massiver Hirnstamminfarkt nach Basilarisembolie festgestellt und eine Therapie mit ASS 100 und Clexane durchgeführt wurde. Nach ihrer Entlassung aus der stationären Behandlung am 23.12.2005 fand vier Monate lang eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme statt. Drei Monate nach Ende dieser Maßnahme verstarb die Patientin.

 

Das Gericht hat diesen Sachverhalt als grob behandlungsfehlerhaft beurteilt. Es führt aus, dass bereits am 12.11.2005 die Einschaltung eines Facharztes für Neurologie ganz zeitnah nach Einlieferung der Patientin geboten gewesen wäre. Die Tatsache, dass dies unterlassen worden sei, sei als behandlungsfehlerhaft anzusehen. Ein Neurologe hätte die erhobene Computertomographie beurteilen müssen. Selbst wenn das beklagte Krankenhaus keine eigene neurologische Abteilung aufgewiesen hätte, hätte ein auswärtiger Neurologe die Bildgebung auswerten müssen.

 

Das Gericht kommt zu dieser Beurteilung trotz der Tatsache, dass es für die behandelnden Ärzte nicht zwingend gewesen sei, aus den Bildern der angefertigten Computertomographie den Verdacht auf die tatsächlich vorliegende Erkrankung zu erhalten. Allerdings sei es für den die Bildgebung befundenden Radiologen zwingend geboten gewesen, auf den Bildern eine pathologische Struktur der arteria basilaris zu erkennen und damit einen hochgradigen Verdacht auf einen Verschluss dieser Arterie zu erheben. Aufgrund dieses hochgradigen Verdachts wäre es wiederum zwingend geboten gewesen, einen Facharzt für Neurologie hinzuzuziehen, der dann die Diagnose eines Verschlusses der Arterie bestätigt hätte.

 

Folge der durch den Neurologen gestellten Diagnose eines Arterienverschlusses wäre die rasche Verlegung der Patientin in eine neurologische Klinik bzw. eine Klinik mit Stroke-Unit gewesen. Hier hätte dann die Patientin sehr viel bessere Heilungschancen gehabt, da ein Eingreifen innerhalb der ersten zwölf Stunden nach dem Arterienverschluss stets bessere Heilungschancen aufweise als ein verspätetes Eingreifen.

 

Der Kläger des Verfahrens, der Sohn der verstorbenen Patientin, hat neben anderen Schadenersatzpositionen ein Schmerzensgeld in Höhe von 250.000,00 € beantragt. Das Gericht hat lediglich 50.000,00 € zugebilligt, da die Patientin bereits ein gutes halbes Jahr nach den Vorkommnissen verstorben sei und hierdurch sozusagen nicht mehr viel Zeit hatte, lange körperliche Beeinträchtigungen hinzunehmen. Dies ergibt sich auch der etwas zynischen, aber rechtlich zutreffenden Rechtsprechungspraxis, dass bei schnellem Versterben der Patienten keine exorbitanten Schmerzensgeldbeträge zu zahlen sind. Dieser Rechtsprechung ist auch grundsätzlich zuzustimmen, da sonst keine Relation mehr zu Fällen hergestellt werden kann, in denen Patienten z. B. querschnittsgelähmt oder für ihr ganzes Leben behindert sind. Schwächen weist diese Rechtsprechung allerdings bei Fällen auf, in denen die Patienten nur noch wenige Tage leben und aufgrund medikamentöser Behandlung auch keine besonderen Schmerzen haben. In diesen Fällen geht das zuerkannte Schmerzensgeld gegen null, obwohl der Patient infolge des Behandlungsfehlers verstirbt. In solchen Fällen ist die Praxis der Rechtsprechung abzulehnen.

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